Belarus

Belarus

Die Explosion im Kernkraftwerk Tschernbyl, die sich in der Nacht des 26. April 1986 ereignete, hat Millionen menschlicher Schicksale buchstäblich in zwei Teile zerrissen, vor und nach der Havarie. Das Kernkraftwerk selbst befindet sich nur 7 km entfernt von der weißrussischen Grenze.
Aufgrund der damals herrschenden meteorologischen Bedingungen wurde Belarus auf einer Fläche von mehr als 46.000 qkm mit radioaktiven Niederschlägen verseucht. Das ist bedeutend mehr als auf dem Territorium der Ukraine. Und wenn man die Größe der Fläche mit der höchsten Verseuchung (mehr als 1480 Becquerel je qm) betrachtet, so wurde Belarus 4 mal stärker betroffen.

Die Größenordnung der Tragödie kann man sich nur schwer vorstellen.
So muss Belarus beispielsweise das Staatsbudget von 32 Jahren ausgeben,
um die Folgen der Tragödie vollständig zu überwinden. 346 Ortschaften haben aufgehört zu existieren. 218.000 ha Land können nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden, weil dort keine essbaren, unverstrahlten Produkte geerntet werden können.

Der größte Teil der unsichtbaren, tödlichen radioaktiven Teilchen ging über dem Gebiet Gomel nieder. Besonders stark betroffen im Gebiet Gomel wurden die Kreise Braginskij, Choinizkij, Narowljanskij, Wetkovskij. So wurden beispielsweise aus dem Wetkovskij – Kreis wegen der hohen Werte der radioaktiven Verseuchung des Bodens 16.700 Menschen aus 53 Ortschaften umgesiedelt.
Das waren ca. 30% der Bevölkerung im Jahre 1986. Insgesamt befanden sich 1.400.000 Menschen in verseuchten Orten des Gebietes Gomel.

Tschernobyl hat unserem Land unzählige Probleme gebracht.
Zu den offensichtlichsten gehören:

  • der erhöhte Krankenstand
  • die Bevölkerungsflucht
  • das Absinken der Produktion und..
  • damit verbunden, das Absinken des Lebensniveaus der Bevölkerung und
    der Einsatz eines bedeutenden Teils der staatliche Ressourcen für die Durchführung von Schutzmaßnahmen.

So wurden im Rahmen der Umsiedlung auf Kosten des Staates ca. 50.000 Wohnungen und Häuser, dutzende Krankenhäuser und Schulen und eine Vielzahl anderer sozialer Einrichtungen neu gebaut.

Die gesundheitlichen Probleme der Menschen beleuchten besonders eindringlich die allgemeine Lage.
So wuchs im Vergleich zu 1985, der Vor-Havarie-Zeit, die Zahl der bösartigen Wucherungen um 30%, Diabetes wuchs um 12% an, um das 3,1-fache erhöhte sich die Zahl der Infarkte, die Zahl der Anämien wuchs auf das 3-fache. Im Gebiet Gomel stellt man sehr viel häufiger als in anderen Gebieten der Republik Erkrankungen des Drüsensystems, Störungen des Stoffwechsels und des Immunsystems sowie Erkrankungen der Verdauungsorgane fest.

Im Jahre 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, wurde offensichtlich,
dass Belarus nicht in der Lage sein würde, die aufgetretenen Probleme selbständig zu lösen.
Und obwohl der Oberste Sowjet das gesamte Territorium der Republik zum Notstandsgebiet erklärte, hatte man viel Zeit verloren, bis man die Weltöffentlichkeit über diese schreckliche Tatsache informierte. Die Menschen der meisten Staaten waren inzwischen überzeugt, dass die Ukraine am schwersten betroffen war, weil sich das Kernkraftwerk Tschernobyl dort befindet. Belarus dagegen blieb mit seinen Problemen im Schatten. Mehr noch, die europäischen Regierungen waren hauptsächlich mit dem weiteren Schicksal des 4. Kraftwerksblockes und des Sarkophags beschäftigt: welche Gefahren wohl diese für den Kontinent darstellen könnten. Die Probleme eines Volkes jedoch, das der Wirkung der Radioaktivität ausgesetzt war, beunruhigten alle sehr viel weniger.

Dankbarkeit-deUnd genau zu jener Zeit, Anfang der der 90-er Jahre, im wohl kritischsten Moment, als niemand über genaue Informationen verfügte, brachten Tausende, nein, Zehntausende Menschen in Deutschland, Italien, Irland, Belgien und Japan so viel Barmherzigkeit, Mitgefühl und Verständnis für fremden Schmerz auf, und zeigten ihren Willen, die Leiden der von der Katastrophe betroffenen Menschen zu lindern, wie es nicht eine einzige Regierung vermocht hätte, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.
Sie begannen, auf freiwilliger Basis Initiativen, Vereine, Komitees und Fonds zu gründen, deren Aufgabe in der Organisation eines ganzen Systems der Hilfe für Belarus bestand.

Besonders lebhaft verlief dieser Prozess in den Jahren 1991 – 1994.
Damals kamen fast 70% der humanitären Hilfe für die Menschen im Gebiet Gomel aus Deutschland. Jeden Sommer fuhren tausende weißrussische Kinder zur Erholung zu deutschen Familien.
Dabei muss man bedenken, dass der größte Teil der damit verbundenen Kosten allein von diesen Familien getragen wurde.
Inzwischen waren mehr als 400.000 Kinder aller Altersgruppen in Deutschland.
Die Vereine organisierten die Sammlung von Mitteln für den Kauf von Medikamenten,
medizinischen Ausrüstungen und anderer dringend benötigter Dinge.
Jedes Jahr kamen dutzende Transporte mit humanitärer Hilfe in unser Gebiet.

Bis heute wird beispielsweise die hämatologische Abteilung des Gebietskrankenhauses Gomel zu 80% über die humanitären Organisationen mit ausländischen Medikamenten versorgt.
Das macht es möglich, die Sterblichkeit unter den Kindern, die an Blutkrankheiten leiden, auf ein Drittel zu verringern.

Irgendwann kommt die Zeit, wo auch diese Periode in der Geschichte der Beziehungen zwischen Belarus und Deutschland detailliert erforscht und beschrieben wird.

Aber schon heute ist eines offensichtlich: Die Barmherzigkeit der deutschen Menschen hat es geschafft, die Mauer aus Misstrauen und Spannung,
welche auf diesem Land auch fast 50 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges noch stand, niederzureißen.

Die Weißrussen haben verstanden:
Der, der ihre Kinder vor dem Tode rettet, kann kein Feind sein.
Bei uns gibt es ein Sprichwort: einen Freund erkennt man in der Not.